Alpenüberquerung Etappe 6: Von Vent nach Meran

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Da ist er also. Seltsam. Ich hatte erwartet ihn am Ende zumindest ein kleines bisschen herbeizusehnen. Im Moment empfinde ich seine Anwesenheit als eher unangebracht. Es ist Montag, der 18. August. Er ist Nummer 6, und damit der letzte Tag unserer Alpenüberquerung. Und er hat überragendes Wetter mitgebracht! Heute Abend werden wir in Meran Pizza essen und Wein trinken. Na dann: Los geht’s. Raus jetzt. Auf ein letztes Mal.

Die herzliche Pensionsmutter hat uns bereits am Vorabend eine Thermoskanne mit Tee und unser Lunchpaket im Frühstücksraum zurechtgelegt. Im stehen kippen wir den Tee rein, schmeißen die Tagesverpflegung in unsere Rucksäcke und stolpern noch ein wenig schlaftrunken auf die Straße. Es ist 06:15 Uhr, hinter den Bergen muss gerade die Sonne aufgehen, aber Vent liegt noch im Schatten der mächtigen Dreitausender ringsherum. Herausragend natürlich die bekannte Wildspitze, mit 3.772 m Österreichs zweithöchster Berg.

Venter Berge im Morgenlicht  Venter Berge im Morgenlicht

Venter Berge im Morgenlicht

Wir finden schnell aus Vent heraus und schlagen den Weg Richtung Süden ein, gen Italien. Während die Gipfel der umliegenden Berge langsam im Morgenlicht zu glühen beginnen, folgen wir einem stetig ansteigenden Forstweg. Parallel zum Niedertalbach führt uns dieser ganz unaufgeregt vorbei an der Alm Niedertal und an einer Schäferhütte bis zur Martin-Busch-Hütte.

Weg von Vent zur Martin Busch Hütte

Martin Busch Hütte

Das ist also das Niederjochtal. Imposant von Gletschern ausgeschürft endet das Tal dem Namen nach – konsequenterweise – am Niederjoch, wo schon die Similaunhütte als kleiner Punkt zu erkennen ist. Wir befinden uns damit mitten in historischem Gebiet: Unweit der Similaunhütte wurde im September 1991 Ötzi von den beiden Bergwanderern Erika und Helmut Simon aus Nürnberg gefunden, als sie abseits der markierten Wege unterwegs waren.

Niederjochtal mit Similaunhütte

Der damalige Hüttenwirt dort informierte die Polizei über den Leichenfund. Deren Interesse war allerdings erstmal eher mäßig, denn in dem damals heißen Sommer wurden einige verunglückte Bergsteiger vom Eis freigegeben. Bergsteigerlegende Reinhold Messner, der ebenfalls zufällig auf der Similaunhütte war und sich von dort aus zur Fundstelle aufmachte, stellte dort angekommen allerdings direkt fest: „Mit dem Manndl stimmt was net…“ Er sollte recht behalten.

Ötzi

Uns wird die Ötzi-Fundstelle heute allerdings verwehrt bleiben. Wir haben mit unserem gestrigen, unfreiwilligen Etappenende in Vent  noch entsprechende Extrakilometer auf dem Zähler, die es nachzuarbeiten gilt. Während auf dem schneebedeckten Similaun einige Seilschaften bei herrlichem Wetter in Richtung Gipfel unterwegs sind, erreichen wir nach 2 Stunden Gehzeit durch das Tal und ein kleines Gletscherstück am Ende die Similaunhütte.

Seilschaften auf dem Weg zum Gipfel des Similaun

Und es schlägt wieder voll ein. Ohne Rücksicht auf unsere Aufnahmefähigkeit. Ein weiteres von vielen multiplen Oh-Erlebnissen auf unserem Weg über die Alpen: Oh, wir sind in Italien! Wenige Meter vor der Hütte haben wir die Grenze überschritten. Oh, wir haben die 3.000 m Marke überschritten! Oh, das ist der höchste Punkt unserer Alpenüberquerung! Die Similaunhütte liegt auf 3.019 m. Oh, das ist unsere letzte Hütte! Oh, gleich folgt unser letzter Abstieg! Wir müssen den Augenblick einfach bestmöglich festnageln, ihn hinauszögern. Eine Einkehr ist unausweichlich. Auf zu Kaffee und Kuchen!

Similaunhütte

Aber irgendwann endet auch diese Einkehr, wir satteln unsere Rucksäcke und machen uns auf den letzten Weg, rund 1.300 Meter Abstieg nach Vernagt. Während wir gemütlich in der Hütte saßen, hat uns eine Wolkenfront verschluckt. Die ersten 20 Minuten laufen wir also im Nebel, als langsam ein smaragdgrüner Fleck im Dunst erkennbar wird. Erst wie eine Fata Morgana, dann immer deutlicher. Der Stausee in Vernagt! Bisher kannte ich diese Ansicht nur von Fotos. Als alle Wolken verzogen sind und wieder der blaue Himmel strahlt, scheint der See zum Greifen nah. Schneller geht es trotzdem nicht.

Vor dem Abstieg von der Similaunhütte

Wolken ziehen rein

Abstieg von der Similaunhütte im Nebel  Der Weg zum Stausee in Vernagt

Mit dem Stausee ständig vor der Nase brauchen wir weitere 2 Stunden für den Abstieg. Begleitet von Murmeltieren, Kühen und Silberdisteln. Die letzten Meter versuche ich mir für ewig ins Gedächtnis einzubrennen. Wir erreichen den Tisenhof. Unsere Sicherungen knallen durch, Endorphine im Ausverkauf, alles muss raus. Wir haben es tatsächlich alle gesund und munter über die Alpen geschafft!

Silberdistel am Wegesrand

Das Ende unserer Alpenüberquerung

Wir schweben zur Ortsmitte und springen dort nach 10 Minuten Wartezeit in den Bus, der uns vorbei an Schloss Juval – Reinhold Messners ganz persönliche Sommerresidenz – zum Umstiegsbahnhof bringt. Während der Zug einfährt ziehen wir in allerletzter Sekunde das Ticket aus dem Automaten und springen hinein. Und als sich die Zugtüren in Meran wieder öffnen, schlägt uns eine ungewohnte Hitze entgegen. Stimmt, da war was. Es ist Sommer! Kontrastprogramm zu Schneefall und eisiger Kälte der vergangenen Tage.

Am Bahnhof in Meran

Vom Bahnhof aus laufen wir zur Jugendherberge. Vorbei an Palmen, Autokolonnen, Touristen. Dennoch hält sich der Kulturschock in Grenzen, da man bei dieser Alpenüberquerung immer wieder in Dörfer und kleine Städte kommt, Autobahnen kreuzt oder auf Wunsch gar selbst im Auto sitzt. Als ich im Jahr davor nach der viertägigen Watzmanntour ohne großen Kontakt zur „Zivilisation“ ins touristisch geprägte St. Bartholomä am Königssee einlief, war der Schock beim Anblick weißer Tennissocken in Sandalen deutlich größer.

Ankunft in Meran Ankunft in Meran

Zeit, selbst zum Touristen zu werden. Nach ausgiebigen Duschen schlüpfen wir in unsere am wenigsten beanspruchten Shirts und Hosen und mischen uns in Hüttenschlappen unter die Urlauber. Wenn ich nur jetzt noch weiße Tennissocken hätte! Wir flanieren, essen, trinken, schreiben Postkarten und genießen den Sommerabend in Italien, ehe wir todmüde zur Unterkunft steuern.

Pizza in Meran

Als ich Abends im Bett endlich mal zum durchatmen komme, macht sich wieder das Bedauern von heute Morgen breit. Ich würde unglaublich gerne zwei weitere Tage den Meraner Höhenweg wandern. Noch einmal alles sacken lassen, Tempo rausnehmen aus unserem Sprint über die Alpen und ganz langsam in Meran ankommen. Dort auf eigenen Füßen einlaufen. Hilft nichts! Das nächste mal. Oder dann eben gleich in 28 Tagen von München nach Venedig.

Morgen geht es mit dem Bus zurück nach Oberstdorf. In 6 Tagen zu Fuß über die Alpen! Ob ich es schon begriffen habe? Nein, jetzt noch nicht.